RHYTHMUS 21

Club-Visuals als Regenerator der Avantgardefilmgeschichte

VJs sind Performer, die gemeinsam mit DJs und dem Publikum eine Party stattfinden lassen, ihr Kino ist ein Club, expanded und taktil. Club Visuals sind Ereignisse, die in den seltensten Fällen werkförmig vorliegen und darum eine filmanalytische Betrachtung nur bedingt ermöglichen. Dieser Text ist ein Versuch, die von screendancing präsentierten VJs und das Phänomen der Club Visuals assoziativ mit der Geschichte des Avantgardefilms zu mappen, um mögliche Nachbarschaften und Verwandtschaftsbeziehungen in den Blick zu bekommen. Denn selbstverständlich ist die Projektion von Bildern und optischen Effekten während Live-Events als solche seit Andy Warhol’s Exploding Plastic Inevitable nichts Neues mehr. Doch die um die Jahrtausendwende in der Berliner Techno-Szene entstandene VJ-Culture verdankt ihre Diversität und künstlerische Neuheit generell auch einer Aktualisierung der historischen Film–Avantgarden. Analog zur Erfindung der Filmtechnik zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts bilden mit Computer- und digitaler Videotechnik abermals neue Medien das technische Dispositiv, durch dessen Erforschung sich eine Vielfalt künstlerischer Praktiken herausbildet, die sich mit der visuellen Kultur ihrer Gegenwart auseinandersetzen. Das von den VJs generierte bzw. reorganisierte Bildmaterial speist sich gleichermaßen aus den technisch-materialen Effekten ihrer Produktionsmittel, wie aus dem Bildraum medialer Wirklichkeit, ist sowohl Bildgeschichte als auch zeitgenössischer Ausdruck einer technologischen Entwicklung. Es schreibt sich ein in die Geschichte des Avantgardefilms, indem die VJs, deren ästhetische Impulse aufgreifend, Verfahrensweisen der Avantgarden regenerieren. Dabei befindet sich die VJ-Culture in einem Spannungsverhältnis zwischen der diskursiv-ökonomisch strukturierten Kunstproduktion und einem erlebnisfixierten, nachtaktiven Underground.
In den sechziger Jahren entwickeln Filmemacher in New York die Idee eines Expanded-Cinema bzw. Live-Film. Stan VanDerBeek eröffnet 1963 in einem umgebauten Getreidesilo bei New York mit dem Movie-Dome-Theater ein solches performatives filmisches Environment. Hier liegen die Zuschauer auf dem Rücken und blicken in ein mit mehreren Projektionen bespieltes Kuppeldach. Popularisiert werden solche avantgardistischen Programme dann in den Live-Events des Pop-Underground, dem allerdings der kritisch-modernistische Anspruch „Film wieder auf seinen Wert als Medium zurückzuführen“ wohl eher egal ist. Jack Smith, den Warhol als für ihn einflussreichsten Filmemacher bezeichnet, führt seine Filme nach dem Zensur-Skandal um „Flaming Creatures“ 1963 nur noch selbst vor und verändert sie während den oft exzessiven, stundenlangen Projektionen, indem er das mitgebrachte Film-Material jedes Mal neu anordnet und umschneidet. Andy Warhol macht die Konzertauftritte von Velvet Underground durch Mehrfachprojektionen seiner Filme zum Gesamtkunstwerk. Der Link von experimenteller Filmpraxis und populärer Musik ist damit etabliert und führt ins Musikfernsehen, zur Gründung von MTV, das kurzzeitig den Anschein erweckt, Avantgardefilm als kunstimmanente Produktionsweise obsolet zu machen.
Aus den Expanded Cinema-Bewegungen heraus entsteht auch das Genre der kinematographischen Installation, deren rasante Verbreitung mit den siebziger Jahren in Gallerien und Museen beginnt und in der Zeit zwischen der Documenta X (1997) und der Documenta XI (2002) einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Unbeeinträchtigt von den normierenden Zwängen der kommerziellen Bildproduktion des Fernsehens und der starren Betrachterposition des Kinoraums entwickeln kinematographische Installationen eine Reihe von Stilmitteln, die sich auch in den Club Visuals entscheidend ausprägen. Dazu zählen vor allem technische Effekte wie Loops, extreme Dauer, Superzeitlupen und räumliche Konstellationen wie Mehrfachprojektion bzw. Multi-Channel-Installationen auf mehreren Monitoren, zwischen denen sich die Zuschauer frei betrachtend bewegen können.

Abstraktion & Materialität

Daniel Pflumms „New York City Loops“ schließen direkt an die warholschen Urszenen Brillo-Karton und Campell-Dose an. Sie wirken so explizit wie wenige andere Club Visuals auf die Pop-Art zurück, mit ihren aus der Werbung unverfremdet übernommenen Markenlogos und Leuchtreklamen. Gleichzeitig bearbeiten sie auch deren neue elektronische Materialität, ihre zeitlichen Figurationen und deren Rhythmik. So wird hier zum Beispiel dem AT&T-Logo zu Gunsten einer materiellen Präsenz seine metonymische Bedeutung entzogen. Das Produkt, für das geworben wird, verschwindet hinter der Bewegung des Lichts und öffnet so den Blick für die ästhetische Dimension seiner Erscheinung. Die dadaistischen Künstler Hans Richter und Viking Eggeling entwickeln um 1920 durch die kinematographische Belichtung von verschiedenfarbigen Leinwänden und Papieren im stop-motion-Verfahren abstrakte, graphische Kompositionen, die in der Projektion rhythmische Figurationen erzeugen. Ihr Interesse besteht darin, die Möglichkeiten der Filmtechnik jenseits ihres abbildlich-gegenständlichen und narrativisch motivierten Einsatzes zu erkunden und den Film sowohl den zeitgenössischen bildenden Künsten als auch der Neuen Musik anzuschließen. Eggeling und Richter tragen der Zeitbasiertheit des Mediums Film Rechnung indem sie ihre Kompositionen musikalisch zu strukturieren versuchen, sie verfolgen die Idee einer „visuellen Musik“. So besteht die Auseinandersetzung mit der Materialität des kinematografischen Bildes in Wechselwirkung mit einer Abstrahierung und Musikalisierung des Films. Die wenige Minuten dauernden Filme von Richter und Eggeling sind schwarz-weiss, aber vor allem sind sie Licht und Schatten, Licht-Kunst. Zahlreiche ähnliche Arbeiten entstehen in der Folge unter anderem am Bauhaus. Für viele Filme werden Partituren entworfen, deren technische Realisierung erst in der Nachkriegszeit möglich ist, z.B. durch die Einführung des Farbfilms. In der interdisziplinär angewandten Kunst des Bauhauses verbinden sich die Einflüsse des Experimentalfilms mit Gebrauchsgraphik und Design, eine Transgression wie sie auch für die Berliner VJ-Szene prägend ist. Hans Richter dreht in der Emigration in New York Werbefilme für Philipp Morris. Seine berühmteste Werkgruppe „Rhythmus 21-25“ arbeitet mit basalen graphischen Formen, sich gegeneinander verschiebenden Quadraten, leinwandfüllend sich ausdehnenden Geraden, konzentrischen Motiven, die ein Pulsieren erzeugen, das stellenweise Wahrnehmungseffekte wie optische Täuschungen produziert. Dabei sind die Rhythmus-Filme weit entfernt vom Suprematismus des „Schwarzen Quadrat“ von Kasimir Malevich. Sie bedeuten nichts; genausowenig wie die Linien, die sich in Eggelings einzigem Film „Vertikale Komposition“ sukzessive zu a-signifikanten graphischen Figuren zusammensetzen und wieder auflösen. Die Wechselwirkung zwischen materieller Konkretion und non-figurativer Abstraktion prägt auch die Arbeit von Ute Härting aka U-Matic, deren Pseudonym sowohl auf das Initial ihres Vornamens als auch das erste Videoformat U-Matic verweist und damit programmatisch für eine Hybridisierung von Mensch und Maschine steht. Computergenerierte Bilder werden von ihr so manipuliert, dass durch die absichtliche Produktion von Bildstörungen und technischen Fehlern neue Bilder entstehen, deren assoziative Offenheit die betrachterseitige Imagination und Deutungsabsicht einkalkuliert. Immer wieder ist man versucht in den Formenspielen des Datenrauschs Figuren zu erkennen, die sich aber permanent verwandeln und damit jederzeit einer Bedeutung entziehen. Bei U-Matic steht das Interesse an den Möglichkeiten der elektronischen und digitalen Manipulation und einer so entstehenden visuellen Opulenz im Vordergrund. Gleichzeitig schafft sie aber auch Erfahrungsräume, die sich aufgrund ihrer rein technischnen Erzeugung von jeder Wirklichkeit jenseits ihrer eigenen, technischen Präsenz abgekoppelt haben. Sie stellen damit auf indirekte Weise auch die Frage nach der Natürlichkeit von Wahrnehmung in einer umfassend technisierten Umwelt.


„Die Irrationalität zur Methode machen“ vs. „visuelle Epistemologie“

Jörg X. Franzmann arbeitet mit Serialisierungen, die graphische Formen mit Live-Video-Material und Textfragmenten kombinieren. Er zerlegt die mediale Wirklichkeit und setzt sie in einen neuen Zusammenhang, der aleatorisch wirkt, und, den Bildströmen des Fernsehens nicht unähnlich, eine labile Aufmerksamkeit produziert. Hier verschaltet sich disparates Material zu einem Überschuss an Wahrnehmung, und dieser Overkill wird gleichermaßen offenbart und abgefeiert. In den zwanziger Jahren ist der Experimentalfilm ein wichtiges Medium des Surrealismus, der die kinematografischen Bilder aus ihren kausalen Verkettungen löst und surrealistischen Techniken entsprechend reorganisiert. In Réné Clairs 1925er Film „entr’acte“ wird eine Ballettänzerin von unten durch eine Glasplatte gefilmt, wird ein vornehmer Trauerzug von in einen Geschwindigkeitsrausch erfasst, geraten Passanten in Endlosschleifen. Filmische Bilder, die durchaus der Einstellungs-Grammatik des klassischen Stummfilmkinos und seiner Narrative entsprechen, werden ihren Bedeutungszusammenhängen entzogen und in neue, irrationale, a-logische Sinnlichkeiten überführt. Loop, Zeitlupe und Beschleunigung, die Überblendung: darin liegt auch ein hedonistisches Moment, eine irrationale Freude am Effekt und der kick durch Überforderung der Wahrnehmung. Methodisch werden diese neuen Bildtypen entwickelt, die alles mögliche andeuten und nichts bestimmtes meinen. Statt sich einer expliziten politischen Aussage zu betätigen, könnte diese gerade darin bestehen, dass im Ernst alles just for fun ist.

Darin unterscheiden sie sich explizit von dem konstruktivistischen Montagekino der Sowjet-Avantgarden, das sich ebenso kausal-logischen bzw. generischen Bilderzählungen widersetzt, mit der kinematographischen Aufnahme-Apparatur aber eine andere Hoffnung verbindet: die soziale Wirklichkeit offenzulegen und es so zu ermöglichen, diese neu zu konstruieren. Dziga Vertovs „Der Mann mit der Kamera“ ("Tschelowek s kinoapparatom") (1929) ist ein prominentes Beispiel für diese Montagetechnik in ihrer Auseinandersetzung mit der Lebens-Wirklichkeit des Kino-Publikums, in Berlin entsteht 1927 Walter Ruttmanns „Berlin: Die Sinfonie der Großstadt“. Die Filme präparieren durch Einstellungswahl einzelne Zeichen des Alltags heraus und setzen sie durch Schnitt und Überblendung mit anderen Aspekten in Beziehung. Sie kartographieren modernes, technifiziertes Leben. Das tun auf ihre Weise auch visomat inc. und Pfadfinderei, indem sie die Ikonographie der Großbaustelle Berlin, die Sedimente der Teilungsgeschichte in manipulierte Videobilder überführen und so neu konfigurieren: Nicht als ein Abbild und nicht als reiner optischer Effekt, sondern als Umwertung von ikonischen Zeichen wie Fernsehturm, Plattenbau und Brachland. So wird ein neuer Stadtplan geschrieben und bisweilen euphorisch markiert, im Zeichen eines prekären, aber grenzenlosen Lebens. visomat inc. wiederum trägt dabei auch vertovsche Züge von Medienreflexivität, die durch die Implementierung technischer Vignetten wie Displays oder Pixelisation zum Vorschein tritt und präsent bleibt. Pfadfinderei sind Kino-Augen, die sich Wege durch das Dickicht der Stadt schlagen, weil sie alles aufsaugen, was ihnen vor das Objektiv kommt, es zu Collagen prozessieren und im Club vergegenwärtigen. Pfadfinderei ist the city dwellers rapid scan.

Während viele avantgardistische Konzeptionen oft technizistischer Natur sind, wirken die Visuals des Kollektivs Jutojo wie eine versuchsweise Re-Evaluierung subjektiver Betrachterpositionen. Mit dem mit einfachen Mitteln gedrehten Bildmaterial schließen sie an essayistische Filmbewegungen wie das personal cinema an, das dem wissenschaftlichen Professionalismus der Studiotechniker die soziale und ästhetische Intuition des Amateurs entgegensetzt. Wie kann das Kino, kann der Filmautor „Ich“ sagen? Wie lässt sich Subjektivität in technischen Bildern überhaupt noch denken? Jutojos anspielungsreiche Bildsprache evoziert Erinnerung, setzt sich zum Gesehenen in Bezug, ohne es interpretieren zu wollen. Sie gehen mit Kamera und Projektor den sinnlich-emotiven Gehalten ihrer Welterfahrung nach, ohne deren technische Hervorbringung und formale Gestaltung aus den Augen zu verlieren. Ähnliche Fragen im Bezug auf Techno-Musik scheinen sich auch die Acts zu stellen, mit denen Jutojo auftreten, wie z.B. Jazzanova oder das Sonar-Kollektiv.


Performanz+Feedback

Club Visuals sind performative Filmprojektionen. Die Vorführung der Visuals ist auf die körperliche Anwesenheit der VJs angewiesen, und die Filme, die hier laufen, sind keine zeitlich begrenzten Vorführungen, sondern werden im Laufe ihrer Projektion permanent modifiziert und von den VJs jedesmal neu und anders aufgeführt. Oberstes Performanzkriterium und Aufführungsrisiko ist, wie beim DJ, aus dem zur Verfügung stehenden Pool an vorfabrizierten Daten auszuwählen und diese zum „richtigen“ Zeitpunkt zu spielen. Dass bei den Selektionsprozessen neben der Interaktion von VJ und DJ auch das Publikum eine Rolle spielt, da es durch seine Reaktionen auf den Verlauf der Performance bzw. der Party Einfluss nimmt, versteht sich von selbst. monitor.automatique gehen soweit, dass sie diese Interdependenz zum einem Leitmotiv ihrer Visuals erheben. Clubbesucher haben während der Party die Gelegenheit an Fotoautomaten Selbstportraits zu machen, die dann als Bildquelle in die Show von monitor.automatique eingespeist werden, und losgelöst vom Moment ihrer Aufnahme jederzeit wieder auf einem der im Club aufgehängten Screens auftauchen. Konzeptuell rekurrieren sie damit auf Arbeiten von Künstlern wie Dan Graham, nehmen aber auch die inflationäre Verbreitung von Fotos der social networks im Internet vorweg, wo sich eigens eingestellter content bekanntlich auch jeder weiteren Kontrolle entzieht und ein Eigenleben beginnt.

Stellt sich die Frage, wie Club Visuals über die Regeneration avantgardistischer Bildpolitiken der Vergangenheit hinaus sich selbst reflektieren und kritisieren können, ohne Technikbegeisterung und euphorische Bildproduktion aufgeben zu müssen. Lillevan arbeitet als Teil von Rechenzentrum an diesem selbstreflexiven Projekt und begreift Club Visuals nicht zuletzt als ein mögliches Medium der Bildgeschichtsschreibung selbst. In seiner Arbeit berühren sich die ikonographischen mit den rein technisch-materiellen Bildern, verschiedene Aufzeichnungsmedien werden in der gleichen Einstellung miteinander in Beziehung gesetzt. 16mm meets Flüssigkristall, Comic trifft auf computerisiertes Color Field. Filmhistorische Referenzen verschwinden hinter dieser entworfenen Welt genauso wie ihre Autoren, die sich jedem Gestus der Originalität widersetzen und gleichzeitig zum Ursprungsort neuer ästhetischer Formen zu werden versprechen.

Die Geschichte der Nacht

Viele historische Filmavantgarden eint die Ablehnung konventioneller Modi der Repräsentation durch Erzählung. Wie wenige andere filmische Topoi hat die Party im Erzählkino einen prekären Status, undzwar weil hier die absolute Konventionalität eines naturalisierten Darstellungsprinzips immer wieder völlig demaskiert zu Tage tritt. So erscheint es nur konsequent, dass sich das Nachtleben in Anlehnung an die Filmavantgarden seine eigen Bildwelt geschaffen hat, die ohne narrative Strukturen auskommt und keiner gebräuchlichen Dramaturgie folgt – die Leerstelle, die bleibt, ist die der Geschichte, der konsistenten (Nach-)Erzählung. Ob das jedoch tatsächlich irgendjemand als einen Mangel empfindet, oder nicht doch viel eher als ein Stück Freiheit vor der Repräsentation, wird sich zeigen.